„Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden ...“

Konferenz Lyrikübersetzungen 2021

5. bis 7. November 2021 | Literaturhaus Halle/Saale

Eine Konferenz mit übersetzenden Dichter:innen & dichtenden Übersetzer:innen

Kuration: Aurélie Maurin und Ernest Wichner
Veranstalter:innen: Ein Projekt von Netzwerk Lyrik e.V. in Kooperation mit TOLEDO – Übersetzer:innen im Austausch der Kulturen und Literaturhaus Halle/Saale

Auf der Tagung im Literaturhaus Halle/Saale kamen literarische Übersetzer:innen von Lyrik mit Lyrik übersetzenden Dichter:innen in einen direkten Meinungs- und Erfahrungsaustausch und diskutierten die verschiedenen methodischen Ansätze des Übersetzens. Die dreitägige Veranstaltung mit über 50 Teilnehmenden galt dem Wissensaustausch zwischen verschiedenen Praktiker:innen und Theoretiker:innen der gegenwärtigen Lyrikübersetzung. Sie beförderte damit gleichsam deren kritische Reflexion und dient der Weiterentwicklung von Praktiken der Lyrikübersetzung.

Materialien

Jeweils mit einem Klick als PDF downloadbar:

Programm | Freitag, 5. November

Auftaktveranstaltung

Eröffnungsreden und Gespräch mit Mirko Bonné und Theresia Prammer

Was geschieht, wenn Gedichte übersetzt werden? Wer tut dies und unter welchen Bedingungen? Was können, was müssen, und was sollten diejenigen wissen, die uns als Dichter:innen, Philolog:innen oder Lyrikübersetzer:innen die Poesien in den Sprachen der Welt nahebringen wollen? Und nach welchen Maßstäben beurteilen wir Gelingen oder Scheitern? Woran liegt es, dass Texte uns kalt lassen oder elektrisieren? Liegt das im Auge und im Geist der Leser:innen oder hat da jemand etwas geleistet, das die individuelle Rezeption entgrenzt? Und kann uns jemand sagen, was das ist?

Zwei Personen, zwei Blickwinkel, zwei Haltungen haben wir zu Vorträgen und zum Gespräch eingeladen – Theresia Prammer und Mirko Bonné.

Die Autorin, Übersetzerin und Essayistin Theresia Prammer spricht davon, dass sich das deutsche Wort ›Haltung‹ beim Versuch, es in andere Sprachen zu übersetzen, als erstaunlich widerständig erweist. „Haltung ist nicht Meinung, nicht Ansicht oder Habitus; sie hat mit persönlichem Ethos ebenso zu tun wie mit kulturellen Prägungen und Gestalt gewordener Erfahrung. Aber was bindet eine literarische Haltung an die Worte, in der sie erscheint? Wohnt sie den Formulierungen inne oder ist sie eine stillschweigende Implikation der Form? Können Übersetzungen Haltung haben oder ist die Haltung bereits das Produkt einer Übersetzung?“

Mirko Bonné, Dichter, Autor von Romanen und Essays, hat ein gleichermaßen großes Werk als Übersetzer – überwiegend aus dem Englischen: John Keats, W.B. Yeats, E.E. Cummings, Emily Dickinson, Sherwood Anderson, Grace Paley und viele andere englische und angloamerikanische Texte hat er ins Deutsche gebracht. Darüber hinaus übersetzte er Werke von Gherasim Luca, Georges Simenon und Antoine de Saint-Exupéry aus dem Französischen. Als Dichter spricht er davon, was ihm der Umgang mit den Gedichten bedeutet, zu deren Übersetzung er sich entschieden hat.

Programm | Samstag, 6. November

Paul Celan übersetzen

Gabriel Horatiu Decuble (Rumänien) im Gespräch mit Ton Naaijkens (Niederlande) und Alexandru Bulucz (Deutschland), Moderation: Ernest Wichner

Paul Celan war der typische Dichter-Übersetzer der fünfziger und sechziger Jahre. Seine Mandelstam-Übersetzungen waren für ihn sehr viel mehr als nur Übersetzungen – Anlass und Beweggrund zur nochmaligen Schärfung seiner eigenen poetischen Mittel, ein Blick auch – aus der verfinsterten Perspektive des Holocaust-Opfers auf den in der Mühle des stalinistischen Terrors zugrunde gegangenen Bruder.

50 Jahre nach seinem Tod ist Paul Celan ein kanonisierter, weltweit bekannter Dichter, der vielfach übersetzt, kommentiert und nachgedichtet wird. Gabriel Horațiu Decuble, Germanist an der Universität Bukarest, rumänischer Dichter und Übersetzer aus dem Deutschen, spricht über die von der Dichterin Nora Iuga angefertigten Celan-Übersetzungen und vergleicht sie mit der zweibändigen Ausgabe sämtlicher Gedichte, die George State ins Rumänische übersetzt hat. Ton Naaijkens, niederländischer Germanist und Celan-Übersetzer gibt einen Einblick in den Stand der Übersetzungen ins Niederländische. Alexandru Bulucz, in Rumänien geborener und in Deutschland lebender Literaturwissenschaftler und Dichter, ist ein guter Kenner der Werke Paul Celans. Er diskutiert mit Gabriel Horaţiu Decuble und Ton Naaijkens die Herausforderungen der Celan-Übersetzung.


TOLEDO-Journale: Einblicke in den Maschinenraum der Literatur

Porträt eines Nachdichters: Norbert Hummelt über sein TOLEDO-Journal „Die ganze Küche ist heute gut drauf” zu Bela Chekurishivilis Gedichtband „Das Kettenkarussell” (Verlag Das Wunderhorn, 2021), Moderation: Jan Kuhlbrodt

Wie übersetzt man aus einer Sprache, die man kein bisschen versteht? Wieso greift man zu Reimen, obwohl das Original darauf verzichtet? Und wie schmecken Churchkhela? Norbert Hummelts TOLEDO-Journal nimmt uns mit auf eine persönliche und sinnlich-kulinarische Reise nach Georgien. Im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt wird Norbert Hummelt viele Einblicke in die poetischen Traditionen Georgiens sowie Zutaten und Rezepte zum Nachdichten liefern.

Zum Toledo-Journal: Die ganze Küche ist heute gut drauf

Journalpremiere: „Joséphine Bacon, Nomadin der Tundra & Bewohnerin der Stadt” mit Andreas Jandl und Jennifer Dummer

Das zweite Journal nimmt das Gastland der Frankfurter Buchmesse, Kanada, in den Blick: Jennifer Dummer und Andreas Jandl sprechen als Übersetzungs-Duo über den notwendigen Luxus, mit vier Ohren und vier Augen zu übersetzen – und wie dieses Verfahren den poetischen Sinn erhitzte, gerade bei so kurzen und dichten Texten wie den Gedichten der Grande Dame der indigenen Dichtung Québecs Joséphine Bacon („Uiesh. Irgendwo. Gedichte“, KLAK-Verlag 2021). Das Journal beleuchtet, was es konkret heißt, Schlüsselbegriffe aus dem Leben der Innu sensibel zu übertragen und eine Sprache durch Übersetzung am Leben zu erhalten.

Zum Toledo-Journal: Joséphine Bacon, Nomadin der Tundra & Bewohnerin der Stadt


„Mein Hirn: ein See“ – Ágnes Nemes Nagy

Die bedeutende ungarische Lyrikerin und Übersetzerin Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) hat die Isoliertheit des Ungarischen als dessen „weltliterarischen Tod“ bezeichnet. Orsolya Kalász und Christian Filips arbeiten seit mehreren Monaten daran, Nagys bildgewaltige Objekt-Gedichte aus Anlass ihres 100. Geburtstags im Januar 2022 neu ins Deutsche zu übertragen. In diesem Werkstattgespräch präsentieren sie die Übersetzungen dieser oft als „ungarische Ingeborg Bachmann“ bezeichneten Lyrikerin und sprechen über die Herausforderungen beim Übersetzen ihrer „zerstreuten Augensprache“.

Franz Fühmann, der kurz vor seinem Tod an Übertragungen dieser Gedichte gearbeitet hat, schreibt in seinem Vorwort: „Diese Gedichte sind Steine: ungeheuer verdichtet, unter enormem Druck zu ihrer Komprimiertheit gebracht.“ Für die Übersetzung stellt sich dabei die Frage, wie man mit der verdichtet-kristallinen Form dieser Texte umgeht, die klassische Versmaße und Wissenschaftsdiskurse vermischen: Atomphysik und Ägyptologie, Kriegstraumata und eine entschiedene Abkehr von der Ästhetik des sozialistischen Realismus zeichnen die Gedichte aus.

In einem kollektiven Versuch wird das Publikum eingeladen, einen Dreizeiler von Nemes Nagy über Telegraphenmaste in möglichst vielen Variationen gemeinsam zu übersetzen.


Friederike Mayröcker übersetzen – Eine vielstimmige Hommage

Mit den Mayröcker-Übersetzer:innen Donna Stonecipher (Englisch), Jean-René Lassalle (Französisch), Julia Kaminskaja (Russisch) und Tanja Petrič (Slowenisch) sowie mit Übersetzer:innen aus dem internationalen JUNIVERS-Kollektiv: Ali Abdollahi (Persisch), Ton Naaijkens (Niederländisch), Douglas Pompeu (brasilianisches Portugiesisch), Abdulkadir Musa (Kurdisch) und Valentina di Rosa (Italienisch) und Bernard Banoun, im Gespräch mit Marcel Beyer

Aus den Perspektiven einer vielsprachigen Gruppe von Übersetzer:innen lässt sich der weltweite Resonanzraum Friederike Mayröckers erspüren: In Halle kommen sie alle zusammen, jeweils mit ihrer eigenen Mayröcker, um unseren Blick auf die Dichterin zugleich zu weiten und zu schärfen.

Ein Workshop stellt das Schreiben von Friederike Mayröcker, ihre lyrischen Sprachmelodien und intuitiven Wortschöpfungen sowie ihre Übertragbarkeit in andere Sprachen in den Mittelpunkt. Marcel Beyer, Dichter, Romancier und Essayist, seit Jahrzehnten bestens vertraut mit dem Werk von Friederike Mayröcker, spricht mit den Übersetzer:innen darüber, wie sich das Mayröcker-Übersetzen vom Übersetzen anderer Autor:innen unterscheidet. Auch wird seine genaue Textkenntnis die Teilnehmer:innen dabei unterstützen, die unvergleichlichen Bilder, Metaphern und Wendungen zu entschlüsseln. Überdies werden die Übersetzer:innen sich auch untereinander über ihre vielfältigen Mayröcker-Funde und -Probleme in den jeweiligen Zielsprachen verständigen; dies unter der Leitung des Lyrikübersetzers und Literaturwissenschaftlers Bernard Banoun.

In der Abendveranstaltung um 20 Uhr wird die Gruppe ihr Findeglück mit einem breiteren Publikum teilen und den polyphonen Mayröcker-Poesien eine Bühne geben. Ausgehend von ihren Übertragungen diskutieren die Übersetzer:innen, moderiert von Frieder von Ammon, über Fragen der Texttreue und der dichterischen Freiheit. Auf dieser Reise durch verschiedene poetische Traditionen und Übersetzungskulturen offenbart sich, wie Mayröckers Werke in anderen Sprachuniversen neue Relevanz entfalten.

Programm | Sonntag, 7. November

Gespräch über Dante: Inferno XIII, Inferno XXXIV, Purgatorio XXVIII

Eine Dante-Matinee mit Michael Donhauser, Christian Filips, Theresia Prammer und Anja Utler, mit einem Gesang von Ariel Nil Levy

Die TOLEDO-Journale laden zur Materialschau rund um den Übersetzungsprozess – Christian Filips, Michael Donhauser und Anja Utler sind dieser Einladung gefolgt und nehmen das Publikum mit zu einer Untersuchung ihrer Neuübertragungen, die im Rahmen des von Theresia Prammer kuratierten Projekts "Lectura Dantis in 33 Gesängen" entstanden sind. Die Journale verschaffen verschiedenste Einblicke in die verborgenen Assoziationsräume und Bilderwelten von Dantes Werk.

„Ich übersetze einen Gesang aus Dantes ‚Göttlicher Komödie‘. Ich kann kein Italienisch. Für sich genommen ist jeder dieser beiden Sätze ok. Zusammen sind sie absurd.“ So fängt Anja Utlers Journal an und wird zum Erlebnisbericht einer übersetzenden Dichterin, die den Spielarten der „poetischen Reaktion“, des „Übersetzens ins Eigene“ zögerlich gegenübersteht.

Zum Toledo-Journal von Anja Utler

Ausgehend von dem Video „Zwischen der Zeit“ von Judith Albert wird in Michael Donhausers Journal die Form von Zeitlichkeit dargestellt, welche diesseitige Vergänglichkeit und jenseitige Ewigkeit in eins setzt und die des Irdischen Paradieses ist.

Zum Toledo-Journal von Michael Donhauser

In die tiefste Hölle aus Dantes „Inferno" hat sich Christian Filips begeben. In seinem Journal „Flugmäusemode“ macht er die musikalischen Quellen des Originaltexts vernehmbar und stellt sich Fragen zum Standes- und Liebesverhältnis von Meister und Knecht sowie zu den SM- und Gewaltphantasien, die Sprechweisen und Sprachmaterial durchgeistern.

Zum Toledo-Journal von Christian Filips

In einem Gegen-Gesang lässt der Performer Ariel Nil Levy den im Rachen des Höllenfürsten steckenden Judas zur Sprache kommen und auf Dante antworten: „Alles steht Kopf: Das Substantiv ist nicht Subjekt, sondern Ziel des Satzes.“ (Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante)


Berührungsängste: Bewegen wir uns in Richtung eines „Sensitivity Translating“?

Podiumsdiskussion: Zum Ausklang der Konferenz kommen ‚Berührungsängste‘ zu Wort: In diesem Gespräch spüren die Dichterin Kerstin Preiwuß, die Lektorin Katharina Raabe, die afrodeutsche Autorin und Literaturwissenschaftlerin Marion Kraft sowie der Dichter und Übersetzer Steffen Popp den Sensibilitäten nach, die ihre Arbeit mental, politisch oder ideologisch begleiten. Der Übersetzer Douglas Pompeu eröffnet dieses Gespräch mit einem neuen Beitrag für die TOLEDO TALKS-Reihe „Berührungsängste”, Moderation: Beate Tröger

Mehr Informationen zur TOLEDO-Reihe Berühungsängste

Berührungsängste haben nicht nur in Zeiten der Coronapandemie Sonderkonjunktur – auch die Gespräche und Podien rund um das „Sensitivity Reading“ und „Sensitivity Writing“ haben seit der Debatte um Amanda Gorman die Übersetzungszone erreicht. Hinterfragt wird, was ein:e Übersetzer:in übersetzen darf und was nicht, ob das Übersetzen nicht über Fachwissen und Sprachexpertise hinaus auch ganz bestimmte persönliche Berührungspunkte voraussetzt. Ist nicht die Literatur und erst recht die Poesie der Ort, an dem in höchster Verantwortlichkeit für das Denken und Fühlen auch der Anderen agiert wird? Reicht sprachliche Sensibilität aus, um die Lücken zu füllen oder Ungerechtigkeiten zu beheben, die durch die weißen Flecken und Verdrängungen in Historiographie, Kulturgeschichte und Mentalitätsforschung erst entstanden sind? Gibt es Sensibilisierungsstrategien für Literaturvermittler:innen, die zu mehr Rücksichtnahme, Einfühlsamkeit und Gerechtigkeit führen, und wie lassen diese sich beschreiben?